31.03.2022

Interview mit
Prof. Dr. Alexander Berth

«Die ersten klinischen Erkenntnisse mit dem zementfreien Glenoid sind vielversprechend»

Nach zwei Jahren bewährtem Einsatz in einer Multizenterstudie hat das neue Implantat «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» in der Schulterendoprothetik jetzt Marktreife erlangt. Über seine bisherigen klinischen Erfahrungen mit diesem Implantat sprachen wir mit dem leitenden Studienarzt Prof. Alexander Berth.

Prof. Dr. Alexander Berth

ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Rheumatologie, Chirotherapie und Sportmedizin und als Oberarzt in der orthopädischen Klinik der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg tätig. In dieser Funktion ist er für den Bereich der Schulterchirurgie zuständig.

Prof. Berth ist Mitglied mehrerer orthopädischer Fachgesellschaften. Er hat umfassende Erfahrungen im Bereich der modernen arthroskopischen und offenen Schulterchirurgie gesammelt. Seine aktuellen wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Weiterentwicklung aktueller Schulterprothesensysteme.

Interview

Herr Prof. Berth, seit seiner Erstanwendung 2004 hat der schaftfreie Humeruskopf neue Massstäbe in der Schulterprothetik gesetzt. Jetzt deutet sich an, dass der zementfreie Glenoidersatz eine Renaissance in der klinischen Anwendung erlebt. Wie wichtig ist dies in der Praxis? 

In der anatomischen Schulterendoprothetik gilt der zementierte Glenoidersatz derzeit als Goldstandard. Dennoch stellt die aseptische Lockerung dieses Implantates im Langzeitverlauf eine der häufigsten revisionspflichtigen Komplikationen dar. Daher ist die Weiterentwicklung des Glenoidersatz ein entscheidender Schritt, um diese Problematik zu adressieren. Durch eine Implantatoptimierung im Hinblick auf Design, Fixation und verbesserte Materialeigenschaften besteht die berechtigte Annahme, dass neue zementfreie Glenoidkomponenten hier einen möglichen Lösungsansatz darstellen könnten. 

Welche potentiellen Vorzüge haben dahingehend die zementfreien Glenoide? 

Die einzelnen Hersteller dieser neuen Generation zementfreier Implantate verfolgen verschiedene Strategien, um die Standzeiten von Glenoidkomponenten zu verbessern. 

Im Hinblick auf das «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» der Firma Mathys werden diesbezüglich mehrere entscheidende konzeptionelle Aspekte berücksichtigt, die es zu einem innovativen Implantat machen. 

Diese zementfreie Glenoidkomponente ist ein sogenanntes Monoblock-Implantat. Dieses Konstruktionsprinzip hat sich bereits bei den Pfannenkomponenten in der Hüftendoprothetik, wie z. B. beim Einsatz der RM Pfanne von Mathys, bewährt. Das Monoblock-Glenoid besteht aus einem Voll-Polyethylen (PE)-Körper und ist, im Gegensatz zu modularen Systemen, nicht aus Teilkomponenten wie Basisplatte, Schrauben und Inlay aufgebaut. Dadurch können unerwünschte Interaktionen, die an Grenzflächen zwischen den einzelnen Bestandteilen des Gesamtimplantates aufgrund der verschiedenen Materialeigenschaften durch Prozesse wie Abrieb, Korrosion und Fretting auftreten, reduziert bzw. vermieden werden.

Das PE des «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» verfügt darüber hinaus über spezifische Charakteristika, die zusätzlich für eine Beständigkeit der primären Materialeigenschaften sprechen und somit eine lange Lebensdauer des Implantates erwarten lassen. Zum Einsatz kommt ein hochvernetztes PE (HXLPE), das mit Vitamin E, einem Antioxidans, versetzt ist («vitamys», Fa. Mathys). Durch dieses Additiv ergeben sich deutliche Werkstoffvorteile. Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass dieses mit Vitamin E versetzte HXLPE im Vergleich zu anderen PE-Typen eine höhere Oxydations-, Alterungs- und Abbriebbeständigkeit aufweist. 

Daneben besitzt dieses HXLPE aber auch verbesserte mechanische Eigenschaften. Hierbei ist insbesondere dessen «Isoelastizität» zu nennen. Das Elastizitätsmodul dieses HXLPE ist mit dem des spongiösen humanen Knochens vergleichbar. Somit ist eine nahezu physiologische Kraftübertragung vom Implantat in das periprothetische Knochenlager annehmbar. Diese Eigenschaft kann zur Vermeidung eines «Stress shielding» beitragen, was eine wesentliche Ursache aseptischer Implantatlockerungen darstellt. Dieses pathophysiologische Belastungsmuster des periprothetischen Knochens ist bei zementfreien Implantaten aus dem vergleichsweise rigiden Titan nachweisbar und kann durch reaktive Knochenresorbtion zum vorzeitigen Implantatversagen führen. 

Die Primärstabilität des «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» beruht auf seiner Press-Fit Verankerung in einem dafür geeigneten glenoidalen Knochenlager. Um jedoch auch eine suffiziente Sekundärstabilität zu gewährleisten, ist die Osteointegration des Implantates in das umgebende Knochengewebe von entscheidender Bedeutung. Dieser Prozess wird beim «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» dahingehend unterstützt, dass Rückfläche und Verankerungszapfen mit einer Titan-Reinpartikel-Schicht versehen sind und eine grobporöse Oberflächenstruktur aufweisen, um den Verbund zwischen Knochengewebe und Implantat zu fördern. 

«Das neue zementfreie Glenoid erfordert Präzision bei der Implantation.»

Sehen Sie auch klinische Herausforderungen für «Affinis Glenoid vitamys unzementiert»? 

Ja, die sehe ich schon. Das Ziel ist es, mit diesem neuen Implantat an die sehr guten klinischen Ergebnisse bei Anwendung zementierter Glenoidkomponenten anzuknüpfen. Gleichzeitig soll damit die Problematik der aseptischen Lockerung optimiert werden. Beides ist an die Berücksichtigung bestimmter Voraussetzungen bei der Indikationsstellung zu dieser Komponente verbunden. Hierbei würde ich den Aspekt der präoperativen Glenoidmorphologie besonders hervorheben. Dieser patientenspezifische Parameter ist ein wichtiger Faktor für das klinische Resultat nach Schulterendoprothetik und die Standzeit der dabei implantierten Glenoidkomponenten. Da es sich beim «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» um ein Implantat handelt, zu dem die mittel- und langfristigen Ergebnisse noch ausstehen, beschränke ich mich derzeit bei Indikationsstellung auf zentrierte Glenoidtypen A und dezentrierte B1 Pfannen der Bercik / Walch Klassifikation1. Auch die Knochenqualität des Glenoid ist ein wichtiger Faktor. Insofern hätte ich auch Bedenken, wenn diese neue zementfreie Glenoidkomponente zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei sekundären Indikationen zur anatomischen Schulterendoprothetik wie z. B. der Rheumatoiden Arthritis oder metabolischen Arthropathien undifferenziert zum Einsatz kommen würde. Auch präoperative Parameter wie Grad der Glenoid-Retroversion und Ausmass einer Humeruskopfsubluxation sind für die Indikationsstellung bedeutsam. Die hier notwendige Korrektur eines deutlich erhöhten Retroversionswinkels bei Glenoidpräparation zur Implantataufnahme könnte mit einer Schwächung des periprothetischen Knochenlagers assoziiert sein. Deshalb implantiere ich in Fällen, bei denen trotz vorbestehender deutlich erhöhter Glenoidretroversion noch eine anatomische endoprothetische Versorgung indiziert ist, eher ein zementiertes HXLPE Glenoid mit zwei Zapfen. 
Neben diesen patientenspezifischen Faktoren ist jedoch auch die präzise Operationstechnik entscheidend, damit sich dieses zementfreie Implantat in der klinischen Anwendung bewährt. Für das «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» ergeben sich dabei implantatspezifische Besonderheiten, deren Kenntnis und Berücksichtigung das funktionelle und radiologische Resultat beeinflussen können. Besonderes Augenmerk sollte auf die Präparation der glenoidalen Gelenkfläche gelegt werden. Hier ist beim Fräsen neben Schonung der subchondralen Knochenzone gleichzeitig darauf zu achten, dass bei der Implantation der Originalkomponente eine komplette Auflage der beschichteten Rückfläche gewährleistet wird, um die Stabilität des Implantates zu sichern. Auch die sorgfältige Präparation der Bohrlöcher zur Aufnahme der beiden Zapfen dieses Implantates ist dafür wichtig. 

Sie sind leitender Studienarzt einer prospektiven Studie zum zementfreien Glenoid. Welche Erkenntnisse haben Sie bislang gewonnen?

Die Erstimplantation des «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» im Januar 2020 war der Start dieser multizentrischen Studie, deren zentrale Zielstellung es ist, die klinischen und radiologischen Ergebnisse bei Einsatz dieser neuen zementfreien Glenoidkomponente prospektiv in Zwischenetappen über einen Langzeitverlauf zu evaluieren. Bei allen 75 Patienten, die in diese prospektive Studie eingeschlossen und in den fünf an der Studie teilnehmenden deutschen schulterchirurgischen Zentren endoprothetisch versorgt worden sind, zeigen sich erfolgversprechende klinische und radiologische Kurzeitergebnisse. Auch Komplikationen sind bis jetzt nicht aufgetreten. Somit besteht die berechtigte Annahme, dass der Einsatz des neuen «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» auch im mittel- und langfristigen Nachuntersuchungszeitraum sowohl im Hinblick auf die funktionellen und radiologischen Parameter als auch bezüglich der Komplikationsrate und Standzeit sehr gute Ergebnisse erwarten lässt.

«Affinis Glenoid vitamys zementfrei kommt für viele Patienten in Frage.»

Ist das zementfreie Glenoid für alle Patienten geeignet, die ein neues Schultergelenk benötigen? 

Eine solche Aussage lässt sich aus den derzeit vorliegenden Daten zu diesem neuen Implantat noch nicht ableiten. Wir Studienärzte haben aus den genannten Gründen schon bei der Studienplanung bewusst darauf geachtet, die Einschlusskriterien zur klinischen Erstanwendung des «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» genau zu definieren. Ich halte es derzeit für ratsam, diesen gewählten Indikationsbereich auch ausserhalb des Einsatzes im Rahmen klinischer Studien zu beachten. Wenn sich dabei die bisher gezeigten sehr guten Kurzzeitergebnisse in der routinemässigen klinischen Anwendung auf breiterer Basis als stabil und zuverlässig bestätigen, besteht durchaus die Aussicht, das derzeitige Indikationsspektrum zu erweitern. 

Gibt es nach Implantation des neuen zementfreien Glenoidersatz spezielle Anforderungen für die Patienten?

Bei Beachtung der Hinweise zu Indikation und OP-Technik ist beim «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» von einer hohen Primärstabilität auszugehen. Insofern würde ich auch keinen implantatspezifischen Unterschied hinsichtlich der Belastbarkeit und postoperativer Nachsorge bezogen auf die bisher etablierten Behandlungsschemen bei anatomischer Schulterendoprothetik unter Verwendung zementierter Glenoidkomponenten sehen. Die Patienten haben in Bezug auf die Rehabilitation also keine Nachteile. Auch hinsichtlich der generellen Empfehlungen bezüglich der späteren Belastbarkeit und Sportfähigkeit nach Implantation von Schulterprothesen ergeben sich nach den bisherigen Erfahrungen keine Unterschiede. 

«Ich habe zuletzt kein zementiertes Glenoid bei passender Indikation mehr eingebaut.»

Sie haben zwei Jahre Erfahrung mit dem neuen Glenoid-Ersatz. Haben Sie auch schon neue Wünsche an die Entwicklungsabteilung?

Bezüglich des «Affinis Glenoid vitamys unzementiert» konnte unsere Studiengruppe bislang keinen Konstruktionsschwachpunkt entdecken. Sowohl die klinischen als auch die radiologischen Ergebnisse sehen sehr gut aus. Dieses Implantat hat bislang bei keinem der Patienten Probleme verursacht. Wichtigste Aufgabe derzeit ist es, die Daten aus dem weiteren Verlauf aufzuzeichnen und sorgfältig auszuwerten. Darüber hinaus halte ich die Weiterentwicklung der Schulterendoprothetik insbesondere für den Bereich der zunehmenden Revisionsoperationen für bedeutsam. Hierbei stellt insbesondere die adäquate Adressierung von Glenoiddefekten eine besondere Herausforderung dar. Neben chirurgischer Expertise sind dabei immer häufiger fallspezifische Lösungsansätze erforderlich. Dieser klinische Bereich beinhaltet hinsichtlich computergestützter Navigation und Herstellung patientenindividualisierter Revisionskomponenten noch grosses Innovationspotential. 

Herr Professor Berth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Referenz

1 Bercik MJ, Kruse K 2nd, Yalizis M, Gauci MO, Chaoui J, Walch G. A modification to the Walch classification of the glenoid in primary glenohumeral osteoarthritis using three-dimensional imaging. J Shoulder Elbow Surg. 2016 Oct;25(10):1601-6.

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